Mikaela Shiffrin: Wenn das Herz bricht, ist der Sport weit weg (2024)

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Mikaela Shiffrin wurde durch den Tod ihres Vaters aus der Blase des Erfolgs gerissen. Nun fährt sie wieder, doch ihre Werteskala hat sich verändert.

Remo Geisser

5 min

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Mikaela Shiffrin ist zurück. Das ist ein Satz, der im Sport so lapidar tönt, dass man ihn eigentlich nicht schreiben sollte. Aber dies ist nicht die Geschichte einer dieser Versehrten des Sports. Denn Shiffrin hat es nicht das Kreuzband zerrissen, sondern das Herz. Am 2. Februar starb ihr Vater Jeff, ein Comeback-Versuch im März scheiterte, weil die Saison wegen der Pandemie abgebrochen wurde.

So dauerte es 300 Tage, bis sie sich gestern Samstag in Levi wieder aus dem Starthaus schob. In diesem Moment wusste sie nicht, ob sie jemals wieder die nur auf den Erfolg fokussierte Spitzensportlerin sein würde. «Denn heute weiss ich, dass es manchmal unheimlich viel Kraft braucht, um morgens überhaupt aus dem Bett zu kommen», sagte sie an einer Videokonferenz in Finnland.

Skifahren war bei den Shiffrins stets Familiensache. Die Eltern fuhren selbst Rennen, sie nahmen die Kinder Mikaela und Taylor früh mit in die Berge. Später übernahm die Mutter die Rolle der Trainerin, der Vater arbeitete als Anästhesiearzt in Colorado. Er bildete auch eine Art Gegenpol zur erfolgsorientierten Welt der Tochter. Sie selbst erzählte auf Instagram, wie er reagierte, wenn sie ihm von einem Sieg erzählte. «Ja, aber bist du auch ein paar gute Kurven gefahren?»

Mit der Mutter durchs Leben

Für Jeff Shiffrin war das Resultat weit weniger wichtig als das Streben nach Perfektion. Er sagte gegenüber Journalisten einmal, wer wie seine Tochter Mikaela den perfekten Schwung auf der Rennpiste suche, könne seine Zeit nicht mit freiem Fahren im Pulverschnee vergeuden. Selbst auf dem kurzen Weg vom Skilift zum Start sei für Mikaela jeder Meter mit einer Aufgabenstellung verbunden.

Wurde in den vergangenen Jahren über Shiffrin geschrieben, ging es aber oft nicht um den Vater, sondern um die Mutter Eileen. Sie begleitete ihre Tochter an den Rennen, seit diese mit knapp 16 Jahren in den Weltcup eingestiegen war.

Ein derart junges Mädchen für Monate einfach dem US-Team anzuvertrauen, das kam für die Familie nicht infrage. Die Mutter wurde zu einer Art Mentorin am Berg, sie hat ein extrem gutes Auge und Gespür für das, was ihre Tochter weiterbringt. Die beiden wurden aber auch zu Freundinnen, sie verbrachten viel Zeit zusammen, verstanden sich fast blind.

Trotzdem war die Ablösung immer wieder ein Thema. Mikaela Shiffrin reiste allein in Trainingslager, aber wenn die Saison bevorstand, sagte sie immer wieder: «Mama, komm mit! Ich brauche dich.» In einem Gespräch im Oktober 2018 sagte Eileen Shiffrin, dass es sie vermehrt nach Hause ziehe.

Die Situation sei für ihren Mann nicht immer einfach. «Er arbeitet, er trifft seinen Sohn, und er hat zum Glück auch viele Freunde. Aber oft ist es nur die Katze, die ihm Gesellschaft leistet. Es ist ein bizarrer Lifestyle.» Zu Beginn der laufenden Saison blieb sie in den USA, doch als ihre Tochter etwas weniger oft siegte und manche schon von einer Krise sprachen, kehrte sie zurück an deren Seite.

«Es ging mir oft durch den Kopf, dass ich lieber zu Hause wäre. Aber dann fokussierte ich mich auf die Rennen, auf meine Ziele.»

Die Fokussierung auf den Sport hatte auch einen Preis: Der Vater war nur selten an den Rennen, und Shiffrin sagte an einem Medientermin im Oktober, sie habe 13 Jahre lang nicht zu Hause Weihnachten gefeiert. «Es ging mir oft durch den Kopf, dass ich lieber zu Hause wäre», sagte sie, «aber dann fokussierte ich mich auf die Rennen, auf meine Ziele.»

Kurz vor dem Saisonstart 2019 starb die Grossmutter. Doch das Rennen nach Erfolg ging weiter. Im Februar 2020 erlitt ihr Vater einen Unfall, als sie in Europa nur an Sport dachte. Shiffrin reiste überstürzt nach Hause und sass bei ihm, als er im Spital starb. All das hat sie tief bewegt. Immer wieder stellte sie sich auch die Frage: «War es das wert?»

Ja, war es das? Wie wichtig ihr das Skifahren ist, erläuterte Shiffrin im März anhand einer Episode aus den ersten Tagen der Trauer. Sie sass zu Hause und versuchte, aus privatem Videomaterial einen kurzen Film über ihren Vater zusammenzuschneiden.

Doch draussen schneite es, also entschied sie sich, auf den Berg zu gehen und die Ski anzuschnallen. Die Mutter kam mit, der Bruder und ein paar enge Freunde. «Wir taten es vor allem für Dad», sagt Shiffrin der «New York Times». Doch dann spürte sie: «Es hat ein paar Dinge auf null gestellt. Wir brauchten es.»

Shiffrin redet sehr offen über ihren Verlust und die Fragen, die sie bewegen. In den Medien, aber auch auf ihren sozialen Kanälen. Dass kurz nach dem Tod des Vaters eine Pandemie zu wüten begann, weckte bei ihr das Bewusstsein dafür, dass nicht nur ihr Leid geschah. Die Sportlerin komponierte ein Lied, dessen erste Zeile lautet: «This is a message to everyone in pain.»

Als Video stellte sie den Song auf Instagram. Und von Anfang an nahm sie Stellung zu rassistischer Polizeigewalt in den USA. Leuten, die ihr deshalb nicht mehr in den sozialen Netzwerken folgen wollten, beschied sie: «Ich bringe Sie gerne zur Tür.»

All das zeigt, dass Shiffrin durch den Trauerprozess sensibler geworden ist für das, was ausserhalb der Sportblase passiert. Und sie bezieht Stellung, weil viele Probleme nicht im stillen Kämmerlein gelöst werden können. Die Athletin hilft auch konkret: mit der Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung von Wintersportlern.

Der US-Sport lebt von Spendengeldern, doch diese sind eingebrochen, weil es im Corona-Jahr 2020 unmöglich war, Galas und andere Spenden-Events durchzuführen. Der Fonds soll 3 Millionen Dollar generieren.

Geboren, um Rekorde zu brechen

Shiffrin selbst ist längst nicht mehr auf Spenden angewiesen. Sie hat mit dem Sport Millionen verdient und schien dazu auserkoren, sämtliche Rekorde im alpinen Skisport an sich zu reissen. Aber will sie das noch?

Die endgültige Entscheidung scheint sie nicht getroffen zu haben. Als sie gefragt wird, ob sie sich überlegt habe, mit dem Sport aufzuhören, antwortet sie: «Meine Mutter ist wieder bei mir. Und wenn sie nicht hier wäre, dann wäre ich definitiv auch nicht hier.»

Vorerst gehe es einfach darum, perfekte Kurven zu fahren, möglichst viele perfekte Kurven. Jeder einzelne dieser guten Schwünge mache sie glücklich. Ihr Vater hat sie das gelehrt. Jetzt sagte Mikaela Shiffrin: «Ich denke, mein Vater würde nicht wollen, dass ich aufhöre. Aber er ist nicht hier, um es mir zu sagen.» Am Ende wird sie die Frage über ihre Zukunft nur selbst beantworten können.

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